"Was wären wir ohne ein paar Verrückte? Seht, wo uns die Vernünftigen hingebracht haben!" - George B. Shaw

Dienstag, 19. Juli 2011

Kleines Solo

...gefunden:

Erich Kästner - Kleines Solo

Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.


Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Mußt erfahren,
daß es nicht die Liebe ist ...
Bist sogar im Kuß alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Gedanken dazu:
Ein Gedicht, das genau ausdrückt, wie ich denke. Exakt. Mit dem Nagel auf den Kopf getroffen! Als ich es zum ersten mal las, fand ich mich sofort wieder.
"Einsam bist du sehr alleine". Alleine ist man nämlich nicht automatisch einsam. Alleinsein hat nicht unbedingt etwas mit diesem Gefühl der Einsamkeit zu tun. Einsamkeit drückt eine Leere, eine Verlassenheit aus, Alleinsein nur, dass man für sich ist. Man kann sich auch sehr gut, erfüllt und glücklich fühlen, wenn man allein ist. Nicht aber, wenn man Einsam ist. Einsamsein ist sozusagen Alleinsein plus Verlassensein.
"Aus der Wanduhr tropft die Zeit." Dieses Gefühl, wenn man auf die Uhr starrt und der Zeiger sich so schleichend langsam immer ein Stückchen weiter bewegt. Wie zähe Masse, die Tropfen für Tropfen auf dem Boden aufschlägt.
"Stehst am Fenster. Starrst auf Steine." Starrer Blick nach draußen, auf den unbeweglichen Asphalt und Häuser gegenüber. Warten darauf, dass etwas passiert. Merken, dass sich nichts ändert.
"Träumst von Liebe. Glaubst an keine." Tagträumereien, die die Laune versüßen sollen, aber nichts wert sind, weil es zwar die Träume sind, die uns tragen, aber nicht wirklich zu etwas führen. Die Erkenntnis, dass Träume Schäume sind.
"Kennst das Leben. Weißt Bescheid." Resignation.
"Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit." Nebeneinander sitzen und so weit entfernt voneinander zu sein wie Nord- und Südpol.
"Wünsche gehen auf die Freite. Glück ist ein verhexter Ort." Erfüllung von Wünschen als Freiwild; wer es schießen kann, hat Glück, wer nicht, der eben nicht. Glück als "Befindlichkeit" und somit eine Empfindung und ein räumlicher Ort, in dem man sich so schnell wiederfindet wie auch verläuft.
"Kommt dir nahe. Weicht zur Seite. Sucht vor Suchenden das Weite. Ist nie hier. Ist immer dort." Das Gras ist schließlich grundsätzlich grüner auf der anderen Seite. Dem Glück wachsen schnell Beine und es flieht vor dir, wenn du es gerade eine Sekunde unbeobachtet lässt.
"Stehst am Fenster. Starrst auf Steine." Durch eine dünne Glaswand getrennt vom Geschehen. Dem Geschehen so nah sein und doch nichts davon mitbekommen.
"Sehnsucht krallt sich in dein Kleid." Ach ja, die Sehnsucht. Das schwere, so elendlich quälend verweilende Monster, dass sich in dir dir verbeisst und nicht mehr los lässt.
"Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit." Man redet miteinander, doch man hat sich nichts zu sagen. Die Worte sind nur Schall und Rauch, haben keine Bedeutung, man weiß, der andere hört sowieso nicht zu. Und umgekehrt.
"Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren." Sich aufgeben für den anderen fühlt sich nach und nach an wie ein sinnloses Geschenk, fast, wie Verschwendung, weil man nichts zurückbekommt. Gibst alles von dir und bekommst nichts zurück.
"Magst nicht bleiben, wie du bist." Du veränderst, verbiegst dich für den anderen. Krempelst dein Leben immer mehr um. Merkst, dass es nichts bringt. Denkst, du bist Schuld. Willst immer mehr ein anderer Mensch werden, bist immer weniger du selbst.
"Liebe treibt die Welt zu Paaren. Wirst getrieben. Musst erfahren, dass es nicht die Liebe ist." Erkennst, dass du dich immer wieder in den Menschen täuschst - man bekommt nichts geschenkt im Leben.
"Bist sogar im Kuss alleine." Manchmal sogar einsam. Viel zu oft kommt es vor, dass man sich körperlich nah ist, es aber nichts zu bedeuten hat. Normal wird. Zum Zeitvertreib.
"Aus der Wanduhr tropft die Zeit." Langsam aber beständig läuft das Leben ab. Mal will man es verlangsamen, mal beschleunigen, mal zurückdrehen, mal vorspulen. Aber die Geschwindikeit bleibt beständig. Es tropft und tropft weiter. Zeit ist wohl das einzig Konstante im Leben.
"Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine." Fängst an, zu wandern. Magst nicht hinaus, magst dich aber auch nicht vor der Außenwelt verschließen.
"Brauchtest Liebe. Findest keine." Die Suche geht irgendwann nicht mehr weiter, irgendwann gibst du auf.
"Träumst vom Glück. Und lebst im Leid." Hältst dich mit Tagträumen über Wasser, lebst vor dich hin, bist alles -  nur nicht glücklich.
"Einsam bist du sehr alleine und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit." Merkst, dass du dich unter Menschen befindest, aber doch fürchterlich einam bist und niemand dich erreicht. Bist lieber allein, statt zusammen einsam.

Meine Interpretation! Hat etwas sehr Melancholisches, aber mir gefällt's. Sicherlich kann man interpretatorisch noch weiter in die Tiefe gehen, aber diese gewisse Schlichtheit des Gedichtes macht es meiner Meinung aus. :)

1 Kommentar:

  1. Ja, das ist ein sehr schönes, bzw. trauriges Gedicht - und hat so viel Wahrheit in sich. Ich liebe es auch sehr!

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